Donnerstag, 1. September 2011

«Und das Gras wächst»

Die Weltwirtschaft kommt nicht aus der Krise, von Ägypten bis Chile gehen Menschen auf die Strasse – während die Schweiz auf die kommenden Wahlen starrt. Wie sieht der 77-jährige Soziologe und Uno-Beauftragte Jean Ziegler die Lage? Ein Gespräch über Finanzoligarchen, Revolutionen und die Schweiz.

Ein heisser Mittag in Genf. Der Revolutionär biegt um die Ecke – in Anzug und Hemd, eine Mappe in der Hand. Jean Ziegler, der vom Protestanten zum Katholiken wurde, mit Jean-Paul Sartre verkehrte und Che Guevara kannte, legt sich seit Jahrzehnten mit den KapitalistInnen der westlichen Welt an. Seine Waffen sind Worte. Zwanzig Bücher hat er geschrieben, ein Bestsellerautor, der in vielen Sprachen gelesen wird. Inzwischen ist der Intellektuelle 77-jährig, er hält sich mit Judo fit, und er provoziert munter weiter. Zuletzt mit einer Rede, die er zur Eröffnung der Salzburger Festspiele halten sollte, bevor er von den Organisator Innen wieder ausgeladen wurde.

Ziegler ist umgänglich, witzig, schenkt unablässig Wein nach. Dann gehts zur Sache. Mit etwas Glück stossen wir hie und da eine Frage in seinen wortgewaltigen Redefluss.

Herr Ziegler, wir sitzen hier in einer Gewerkschaftsbeiz. Weshalb haben Sie diesen Ort ausgesucht?

Die Brasserie aux Cheminots ist die letzte Gewerkschaftsbeiz in Genf. Ein Galizier führt sie – und das sehr gut. Hierher kommen die Lokomotivführer und Kondukteure, bleiben ein, zwei Stunden, ehe sie wieder losfahren müssen. Genf liegt ja am Ende der Welt.

Sie wurden kürzlich von den Salzburger Festspielen als Eröffnungsredner ausgeladen, wegen Ihrer angeblichen Nähe zu Libyens Herrscher Muammar al-Gaddafi.

Das ist ein Blödsinn, der seit zehn Jahren immer wieder aufgewärmt wird. Meine Bücher kommen im Verlag al-Hayat auf Arabisch heraus. Gaddafi hatte theoretische Ambitionen. Er schrieb das Grüne Büchlein, ein fertiger Seich, völlig konfus. Er hat immer wieder Intellektuelle zum Gespräch eingeladen, auch mich. Für einen Soziologen ist es hochinteressant, einen solchen Staatschef über die afrikanischen Befreiungsbewegungen reden zu hören, auch wenn er ein Halunke ist, oder über Palästina. Ich habe mich aber nie mit ihm solidarisiert. Den Menschenrechtspreis, den er gestiftet hatte, um während des Embargos gegen Libyen die internationale Isolation zu durchbrechen, lehnte ich ab. Punkt. Das ist aktenkundig. Nachdem Gaddafi vor ein paar Jahren in Bengasi 1500 Menschen hatte massakrieren lassen, habe ich nicht mehr auf Einladungen reagiert.

Weshalb dann diese Vorwürfe?


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